Hier finden sich Beiträge aus dem Magazin Nr. 1 der Ving Tsun Kung Fu Association Europe vom Februar 1997.

Vorwort

Liebe Mitglieder

Ihr haltet das erste Magazin unseres Verbandes in Euren Händen. Diese erste Ausgabe soll Euch Einblicke in die Welt unseres fantastischen Kampfstiles verschaffen.

Wie Ihr wisst, handelt es sich bei unserem Ving Tsun um eines der praktischsten, einfachsten und effektivsten Kampfsysteme.

Eine der größten Stärken dieses Systems liegt in der individuellen Anwendung des jeweiligen Benutzers. Dies bedeutet, dass jeder der traditionelles Ving Tsun richtig gezeigt und gelehrt bekommt, es auf seine eigene wirkungsvolle Weise einsetzen kann.

Eben diese Stärke ist aber auch gleichzeitig der größte Nachteil bei der Verbreitung des Systems außerhalb Chinas. Im Gegensatz zu den meisten westlichen Ving Tsun Schulen, in denen das Training einer kommerziellen Massenabfertigung gleicht, wird in Hongkong vielmehr personenbezogen, also in kleinerem Rahmen unterrichtet und trainiert.

In Deutschland hat schon seit den frühen 80er Jahre ein harter Kampf um die grössten Marktanteile begonnen. Ein Kampf mit harten Bandagen, bei dem die Ware „Ving Tsun“ als lukrative Einnahmequelle zum eigenen Ferrari präsentiert wird.

In öffentlichen Artikeln und Anzeigen ist dort die Rede von bestem Ving Tsun und einzig richtigem Ving Tsun. 

Auch wird immer wieder von der neuen Wahrheit berichtet, die man nach einigen Hongkong-Trips und dem fünften Lehrmeister endlich herausgefunden haben will. 

Von einem „Meister“ wird behauptet, er habe Ving Tsun für die Europäer erst „geniessbar“ gemacht, also für die Dummen so umgestaltet, dass sie es lernen können.

In Sexmagazinen behauptet man, der Wing Tsun-Mann wäre in der Lage gegen zehn Männer gleichzeitig zu kämpfen und einen Baumstamm mit der Handkante zu durchschlagen. Ein anderer „Meister“ steht regelmässig auf einem 12er Pack Eier und begeistert damit die Massen. Es ist schon bemerkenswert, mit welch haarsträubenden Geschichten und Vorführungen versucht wird, den Gutgläubigen das Geld aus der Tasche zu ziehen.

Um von den eigenen Fehlern abzulenken, werden auch in aller Öffentlichkeit andere oder Andersdenkende beleidigt, durch den Kakao gezogen oder gar tätlich angegriffen. (Dazu aber mehr im nächsten Magazin.)

Für eine noch bessere Vermarktung des Wing Tsun Systems geht man jetzt sogar soweit, dass man neue, vorher nie dagewesene Techniken in dieses System versucht einzubinden, wie z.B. eine Gesundheitsform, Tritte von ungewohnter Höhe und den sogenannten Bodenkampf. Schliesslich will man ja von allen Geld, von Faust- und Fusskämpfern, von Bodenkämpfern und von Esoterikern. 

Selbst Persönlichkeiten, die diese Vermarktung in früheren Tagen abgelehnt und belächelt haben, erkennen nun die Verdienstmöglichkeiten durch diese Marketingstrategie und schlagen ähnliche Wege ein. 

Bleibt abzuwarten, wann die ersten Bilder oder Filme des verstorbenen Grossmeisters Yip Man auftauchen, auf der er sich mit seinem „Close door student“ auf dem Boden wälzt.

Dass der aufrichtig interessierte Mensch durch diese Art der Berichterstattung leicht verwirrt werden kann, ist nur allzuleicht zu verstehen.

In vielen Gesprächen, Briefen und Telefonaten werden Probleme und Fragen an mich herangetragen, die die Missstände in den verschiedenen Organisationen offensichtlich werden lassen. Ich frage mich, wie es möglich sein kann, dass ich Leuten begegne, die seit mehreren Jahren aktiv einen VT-Stil betreiben, dabei astronomische Summen investierten und dennoch keinen blassen Schimmer über das System, dessen Bestandteile und Hintergründe haben. Dies schliesst nicht aus, dass der genannte Personenkreis hauptberuflich einen VT-Stil unterrichtet.

Ich bedauere diesen Werdegang des internationalen Ving Tsuns, den es nach 300 jähriger sorgfältiger Entwicklung und Weitergabe in den letzten 20 Jahren in unserer Konsumgesellschaft erfahren muss. Darum sehe ich die dringlichen Aufgaben unseres Verbandes darin:

  1. Ving Tsun zu unterrichten und zu trainieren. Ohne Schnörkel, ohne Geheimniskrämerei, ohne Bodenkampf, ohne Gesundheitsform und ohne wer-weiss-was-noch-alles kommt.
  2. Neugierigen, aufgeschlossenen und unvoreingenommenen Personen dieses System näherzubringen, ohne sie dabei zu verwirren und unverhältnismässige Honorare zu verlangen. 
  3. Missverständnisse und Unwahrheiten der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft aufzuklären und diese ins rechte Licht zu setzen.

Durch unsere Beziehung zu Sifu Wong Shun Leung haben wir die Möglichkeit, direkt Informationen zu jeglichen Themen, die Ving Tsun betreffen, zu erhalten.

Das hierbei einige aus der Haut fahren und in die Enge getrieben werden, ist eine Sache, die wir weder provoziert noch verschuldet haben.

Alle unsere Aussagen lassen sich prüfen und sind durch entsprechendes Material beweisbar.

Ich hoffe aufrichtig, dass diese erste Ausgabe unseres Verbandmagazins Euch dabei unterstützen wird, zwischen Wahrheit und Dichtung zu unterscheiden.

An dieser Stelle möchte ich mich bei allen bedanken, die an diesem Magazin mitgearbeitet haben.

Besonderer Dank gilt Patricia Goby Schirmer (Basel), Erwin Löpple (Waiblingen), Daniel Schaufelberge (Basel) für Ihren beispielhaften persönlichen Einsatz und nicht zu vergessen Dietmar Christl (Wien), der diese Ausgabe neben seiner redaktionellen Arbeit auch finanziell unterstützte. 

Natürlich gilt mein Dank auch denen, die mitgeholfen haben, Ving Tsun in unserem Sinne zu verbreiten,

Philipp Bayer